„Okay guys, it’s time to stretch!“ Vor meiner Reise nach Simbabwe, die ich im November 2024 gemeinsam mit meinem Mann unternahm, hatte ich dieses Kommando wohl eher mit Aufwärm- und Dehnübungen vor dem Joggen in Verbindung gebracht. Doch für Mike, unseren Guide im Somalisa Acacia Camp im Hwange Nationalpark, hatte dieses Wort eine völlig andere Bedeutung. Er meinte damit nämlich: „Let’s get out of the car and go for a little walk in the bush.“ (Wie wär’s mit einem kleinen Spaziergang im Busch?)
Als Mitarbeiterin in unserer Marketingabteilung – seit gut zwei Jahren kümmere ich mich um die Präsentation der Unterkünfte und Reisen auf unserer Webseite – gehört der Begriff „Bush Walk“ zu meinem täglichen Wortschatz. Ich wusste, dass es sich dabei um geführte Wanderungen handelt, bei denen ein erfahrener Guide die Gäste eines Camps durch den Busch führt. Was aber tatsächlich hinter einem solchen Erlebnis steckt, wurde mir erst bei meiner ersten eigenen Buschwanderung klar.
Kaum war ich aus dem Fahrzeug ausgestiegen, schienen sich meine Sinne drastisch zu schärfen. Geräusche, die in einer gewohnten Umgebung kaum auffallen, wurden plötzlich deutlich intensiver: Windböen, die kurzzeitig kräftig auffrischten und rauschend den Staub aufwirbelten, das feine Rascheln dürrer Blätter, die durch die trockenen Ebenen wehten, das Wechselspiel zirpender Grillen, das in der morgendlich ansteigenden Hitze mal mehr mal weniger laut war, das Kreisen der Raubvögel am Himmel. Meine Augen wanderten nicht mehr nur nach vorne, sondern suchten die Umgebung aufmerksam nach links, rechts – und nicht selten nach hinten ab. Das Gefühl, nicht mehr in der Rolle des Zuschauers zu stecken, sondern selbst auf der Bühne zu stehen, ließ mich immer wieder über die Schulter blicken. Jeder Schritt wurde bewusster gesetzt, denn das Knacken eines Astes unter dem eigenen Fuß klingt in dieser Szenerie deutlich lauter und eindringlicher als auf jedem Sonntagsspaziergang im heimischen Wald.
Mit diesen veränderten Sinneswahrnehmungen also folgten wir unserem Guide Mike durch den Busch. So liefen wir die ersten 45 Minuten lautlos oder höchsten mit gedämpften Stimmen sprechend in Reih und Glied durch die ausgetrocknete, staubige Buschlandschaft, bis wir zu den Überresten eines vor längerer Zeit erlegten Tieres kamen. Die verstreuten Knochen, erklärte Mike, gehörten zu einer Giraffe, die dort ihre letzte Ruhestätte fand. Unsere Wanderung führte uns tiefer ins Buschland, wo größere Mopane-Bäume hier und da das immer dichter werdende Gestrüpp durchbrachen.
Plötzlich blieb Mike abrupt stehen und bedeutete uns, ruhig zu bleiben. Er hatte links von uns bereits eine große Büffelherde entdeckt, die wir mit unseren ungeübten Augen wahrscheinlich noch deutlich länger nicht bemerkt hätten. Leise näherten wir uns dieser Herde Stück für Stück, doch plötzlich tauchte in einiger Entfernung vor uns eine Herde Elefantenkühe mit ihren Kleinen auf. Sofort suchten wir Deckung inmitten eines vertrockneten Strauchgewächses. „Bleibt ruhig“, flüsterte Mike. Eine Elefantenmutter, erklärte er später, ist genauso beschützend wie ihr menschliches Pendant – und ihr Nachwuchs wird instinktiv verteidigt, wenn Gefahr droht. Da Elefanten aber generell schlecht sehen, dafür umso besser hören und riechen, waren wir mit dem Wind, der für uns günstig stand, in unserem Versteck sicher. So verharrten wir – reglos mitten im Gebüsch kauernd – bis die Familien an uns vorbeigezogen waren, bevor wir unsere Wanderung fortsetzten.
Die Temperatur – zu Beginn unserer Wanderung mit „nur“ gut 30 Grad einigermaßen erträglich – stieg gefühlt mit jeder Minute deutlich an und so kamen wir immer mehr ins Schwitzen. Während ich mir der Hitze, aber auch der Orientierungslosigkeit - ohne unseren Guide hätte keiner von uns mehr zu unserem Fahrzeug zurückgefunden - bewusst wurde, tauchte vor uns ein einzelner Elefantenbulle auf, der träge auf Suche nach Futter umhertrabte. Mit respektvollem Abstand zogen wir, immer auf den Wind achtend, in großem Bogen um ihn herum. Der Bulle schien tatsächlich völlig ahnungslos und streckte sich nach den über ihm hängenden Ästen. Selbst als wir uns ihm frontal näherten, schien er uns noch immer nicht zu bemerken. Als wir nur noch eine kurze Distanz von ihm entfernt waren, trat Mike mit mir an der Hand aus der Deckung des Gebüsches hervor und machte sich durch ein kurzes Husten bemerkbar. „Musst Du gerade jetzt husten?“, dachte ich mir im Stillen. Aber so hatte er absichtlich die Aufmerksamkeit dieses gut drei Meter hohen grauen Riesen geweckt. Sofort drehte er sich in unsere Richtung, stellte in einer Drohgebärde seine Ohren auf und lief auf uns zu. Okay, was passierte hier? - „Whatever happens, don‘t run!“, schoss mir kurzzeitig die wichtigste Regel, die wir zu Beginn unserer Wanderung erhalten hatten, in den Sinn: Niemals, wirklich niemals, wegzurennen. Gegen diesen Riesen wären wir auch als 100-m-Läufer schnell chancenlos gewesen. Als der Elefant nur noch ca. sechs Meter von uns entfernt war, entsicherte Mike mit einem kurzen Klick sein Gewehr – keinesfalls in der Absicht, diesem tollen Geschöpf zu schaden, sondern eine klare Grenze zwischen ihm und uns zu setzen. Der Bulle stoppte tatsächlich abrupt und so verharrten wir für einige Minuten „Auge-in-Auge“, völlig regungslos - der Elefant, der uns abschätzte und wir, die ihn ehrfürchtig betrachteten. Nachdem klar war, dass jeder den Raum des anderen respektierte, trat der Elefant schließlich den Rückzug an und zog davon. Dieses Erlebnis ließ uns alle sprachlos und mit tränenfeuchten Augen zurück – nicht aus Angst, sondern aus Respekt und Demut vor diesem „gentle giant“. Nun verstand ich, warum man diese tonnenschweren Wildtiere immer wieder als „Sanfte Riesen“ bezeichnet.
Unser Zusammentreffen war so ergreifend, dass ich es nicht durch die Linse meiner Kamera betrachten wollte. Deshalb existieren die Bilder zu diesem "zweiminütigen Standoff", wie Mike diese unvergessliche Begegnung nannte, nur in meinem Kopf. Erst als sich der Bulle zurückzog, drückte ich auf den Auslöseknopf.